Jetzt studieren alle online! Geht das?

Nun also – eine neue Zeitrechnung. Erkenntnis Nummer eins: Es geht, es geht besser, als viele von uns dachten. Erkenntnis Nummer zwei: Es ist anstrengender, deutlich anstrengender und zeitraubender als viele in ihren schlimmsten Träumen befürchtet hatten. Erkenntnis Nummer drei: Wer digitale Hochschullehre ernst nimmt, und wer dafür Hingabe zeigt und noch mehr Hirnschmalz investiert, der erzielt gemeinsam mit den Studenten zum Teil deutlich bessere Ergebnisse.

Die persönliche Erfahrung an der Ostfalia in Salzgitter: Besonders gut funktioniert das mit der Digitalisierung in seminaristischen Kursen, bei denen am Ende des Semesters Haus- oder Projektarbeiten abgegeben werden müssen. Das sieht dann zum Beispiel so aus: In der ersten Stufe wird eine Projektskizze entwickelt und elektronisch auf einer Plattform eingereicht – wie diese Skizze auszusehen hat, ist für alle Seminarteilnehmer per Formular vorgegeben. Dann bewerten alle gegenseitig ihre Abgaben – auch dafür gibt es ein Formular, bei dem jeder sich ein Urteil über verschiedene Aspekte per Ankreuzen bilden darf – und damit eben auch die eigene Arbeit noch einmal in Frage stellen kann und muss: Ist das Thema verständlich formuliert? Ist die Projektumsetzung passgenau am Seminarkontext ausgerichtet? Stimmt der theoretische Hintergrund? Passen Beschreibung und der so genannte „Workload“ zueinander, also passen Skizze und geplanter Arbeitsaufwand für das Seminar zusammen? All das können die Teilnehmer bewerten – und ihren Kommilitonen zurückmelden, weil auch dieses Formular auf der Plattform gespeichert wird. Erst nachdem die Projektskizzen mit den Hinweisen der Mitstudierenden angepasst und in einer zweiten Fassung formuliert sind, greift der Dozent ein – und kommentiert die Formulare mit konkreten Hinweisen, gibt Anregungen, kritisiert, bewertet und formuliert möglichst präzise Hilfestellungen. Dann dürfen die Studierenden ihre Basisideen anpassen, vielleicht die ursprüngliche Skizze etwas konkreter ausformulieren. Erst im An-schluss kommt es zur Begegnung – der Ansatz, das Thema, die Struktur, der rote Faden wird im Gespräch – Face-to-Face, besser: Videobild-zu-Videobild online diskutiert; entweder mit jedem einzelnen (bei klassischen Haus- oder Seminararbeiten) – oder aber mit ganzen Projektteams, je nachdem für welche Arbeitsweise man sich im Seminar entschieden hat. Man trifft sich online – im Hangout, bei Duo, Skype, WhatsApp, bei Facetime, Zoom, Discord, Slack, im Facebook-Messenger oder mit Hilfe des Videokonferenzsystems „Big Blue Button“. Jede dieser Varianten hat ihre Vor- und Nachteile. Bleibt zu bemerken: Beherrschen sollte man als Hochschullehrer inzwischen alle diese Systeme – das meiste ist intuitiv gestaltet, und vieles ergibt sich beim Ausprobieren. Denn auch das ist eine Erkenntnis dieser Zeit, wir alle sind geduldiger miteinander.

Der größte Unterschied in solchermaßen organisierter digitaler Lehre liegt nicht in der Technik selbst, er liegt darin, wie Gespräche online verlaufen, welche Schwerpunkte sie setzen und welche Inhalte in ihnen ausgebreitet werden. Konsultationen für Seminararbeiten und Projekte, die zum Beispiel mittels Skype-Videotelefonie durchgeführt werden, sind erstaunlicherweise meistens deutlich effektiver als Sprechstunden, bei denen man sich im Seminarraum oder Büro trifft. Woran das liegen könnte? Nun, Studieren hat immer etwas mit Denken, mit Kognition zu tun, im Büro, bei der Sprechstunde spielen in der direkten Begegnung Emotionen oft die wichtigere Rolle. Man ist sich unsicher, man glaubt, schnell zu verstehen, das Problem genau zu erfassen und erkennt dann erst später, dass man vielleicht doch noch eine zusätzliche Frage hätte stellen müssen; man achtet auf das Umfeld, auf Befindlichkeiten, auf die Atmosphäre, die Stimmung. Vieles davon fällt beim Online-Austausch weg. Das sehen viele Manager übrigens als großen Nachteil von „Home-Office“, man darf es getrost auch einmal als Vorteil formulieren: Online wird mehr inhaltlich nachgefragt. Bezogen auf Projektarbeiten sind zumindest im Studiengang Kommunikationsmanagement viele Studierende in diesem Semester, das einige Professorinnen und Professoren schon als „Nichtsemester“ klassifizieren wollten, deutlich weiter als in den vorangegangenen Jahren, in denen es selbstverständlich war, sich im Seminar persönlich zu treffen. Dafür aber gilt: Die Lehrangebote sind intensiv und anstrengend, Skype-Gespräche und –Konsultationen zu thematisch anspruchsvollen Arbeitsleistungen der Studenten sind zeitaufwändig, wer Onlinelehre ernstnimmt, arbeitet mehr.

Foto: Harald Rau

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