Die Digitalisierung der Hochschullehre stellt bewährte Systeme vor große Herausforderungen – gewohnte Routinen werden durchbrochen, das System muss sich an vielen Punkten neu (er)finden. Das heißt auch: die Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen von Morgen benötigen ein verändertes „Set“ an Fähigkeiten, Fertigkeiten und eben – Kompetenzen. Möglicherweise muss man auch eher weniger von Digitalisierung denn von Medialisierung sprechen, wenn man über Hochschullehre der Zukunft spricht oder schreibt, eine Zukunft, die bereits begonnen hat. Die Fragen lauten: Wann, wo und wie lassen wir unsere kommunikativen Beziehungen in der Lehre von Medien stützen? Über welche Kanäle vermitteln wir welche Botschaften? Welche Medien setzen wir ein, und wie können digitale Formate aussehen? Schließlich: Warum sollten Hochschulen zunehmend professioneller werden, was den Einsatz von digital angelegten Lehrmedien betrifft?
Drei Erkenntnisse prägen die intensive Auseinandersetzung mit digitaler Hochschullehre. Nummer eins: Es geht, es geht besser, als viele denken. Erkenntnis Nummer zwei: Es ist anstrengender, deutlich anstrengender und zeitraubender als viele in ihren schlimmsten Träumen befürchten. Erkenntnis Nummer drei: Wer digitale Hochschullehre ernstnimmt, und wer dafür Hingabe zeigt und noch mehr Hirnschmalz investiert, erzielt gute und sehr gute Ergebnisse. Alle, die sich ernsthaft darauf einlassen, werden bestätigen können: Besonders gut funktioniert das mit der Digitalisierung in seminaristischen Kursen, bei denen am Ende des Semesters Haus- oder Projektarbeiten abgegeben werden müssen. Eine prototypisierte, digital gestützte Lehr-Routine könnte dann so aussehen: In der ersten Stufe wird eine Projektskizze entwickelt und elektronisch auf einer Plattform eingereicht (1.) – wie diese Skizze auszusehen hat, ist für alle Seminarteilnehmer per Formular vorgegeben. Dann bewerten Teilnehmer: gegenseitig ihre Abgaben (2.) – auch dafür gibt es ein standardisiertes Formular, bei dem jeder sich ein Urteil über verschiedene Aspekte per Ankreuzen bilden darf – und damit eben auch die eigene Arbeit noch einmal in Frage stellen kann und muss: Ist das Thema verständlich formuliert? Ist die Projektumsetzung passgenau am Seminarkontext ausgerichtet? Stimmt der theoretische Hintergrund? Passen Beschreibung und der so genannte „Workload“ zueinander, also ergänzen sich Skizze und geplanter Arbeitsaufwand für das Seminar?
All dies können die Teilnehmer bewerten – und ihren Kommilitonen zurückmelden, weil auch dieses Formular auf der Plattform gespeichert wird. Erst nachdem die Projektskizzen mit den Hinweisen der Mitstudierenden angepasst und in einer zweiten Fassung formuliert sind (3.), kommentieren die Lehrenden die Formulare mit konkreten Hinweisen, sie geben Anregungen, kritisieren und formulieren möglichst präzise Hilfestellungen (4.). Dann dürfen die Studierenden ihre Basisideen anpassen, vielleicht die ursprüngliche Skizze etwas konkreter ausformulieren (5.). Erst im Anschluss kommt es zur Begegnung – der Ansatz, das Thema, die Struktur, der rote Faden wird im Gespräch, Face-to-Face, besser: Videobild-zu-Videobild online diskutiert: entweder mit jedem einzelnen (bei klassischen Haus- oder Seminararbeiten) oder aber mit ganzen Projektteams, je nachdem für welche Arbeitsweise man sich im Seminar entschieden hat (6.). Man trifft sich online – im Hangout, bei Duo, Skype, WhatsApp, bei Facetime, Zoom, im Facebook-Messenger oder mit Hilfe des Videoübertragungssystems „Big Blue Button“. Jede dieser Varianten hat ihre Vor- und Nachteile. Bleibt zu bemerken: Beherrschen sollte man als Hochschullehrer und Hochschullehrerin inzwischen alle diese Systeme, was sich im Regelfall als unproblematisch darstellt, da ja vieles intuitiv gestaltet ist und sich beim Ausprobieren ergibt.
Der größte Unterschied in solchermaßen organisierter digitaler Lehre liegt nicht in der Technik selbst, er liegt darin, wie Gespräche online verlaufen, welche Schwerpunkte gesetzt und welche Inhalte in ihnen ausgebreitet werden. Konsultationen für Seminararbeiten und Projekte, die mittels Videotelefonie durchgeführt werden, sind erstaunlicher weise manchmal deutlich effektiver als Sprechstunden, bei denen man sich im Seminarraum oder Büro trifft. So zumindest der empirisch nur an wenigen Beispielen geprüfte Eindruck aus Gesprächen, die der Autor in den vergangenen Monaten im Kollegium führen durfte. Woran das liegt? Während Studieren immer etwas mit Denken, mit Kognition zu tun hat, spielen im Büro, bei einer Sprechstunde von Angesicht zu Angesicht Emotionen oft eine wichtigere Rolle. Man ist sich unsicher, glaubt, schnell zu verstehen, das Problem genau zu erfassen und erkennt dann erst später, dass man vielleicht doch noch eine zusätzliche Frage hätte stellen müssen; man achtet auf das Umfeld, auf Befindlichkeiten, auf die Atmosphäre, die Stimmung. Vieles davon fällt beim Online-Austausch weg. Das sehen viele Manager übrigens als großen Nachteil von „Home Office“, hier kann es als Vorteil formuliert werden: Online wird im seminaristischen Kontext häufiger nachgefragt. Bezogen auf die digitale Hochschullehre und damit alle Veranstaltungsformate gilt: Entscheidend ist die Didaktik! Entscheidend sind die intelligenten Antworten auf die Frage, wie man welche Inhalte in eine Struktur, in eine Logik, genauer: in eine Vermittlungslogik überführt. Wer heute Schwierigkeiten in und mit der Online-Umsetzung von Lehrangeboten hat, darf sich also noch einmal intensiver mit dem generellen „Wie“ beschäftigen, mit der Frage, auf welche Weise Themenfelder oder Schwerpunkte thematisiert werden wollen. Es gibt zahlreiche Konzepte – viele von ihnen bereits aus den 1970er Jahren, sie funktionieren auch in der Onlinewelt. Mit H5P-Anwendungen, die sich beispielsweise hervorragend in Moodle-Umgebungen einpassen lassen, steht zudem für die medienvermittelte Hochschullehre ein nahezu unbegrenzter Werkzeugkasten didaktischer Umsetzungen zur Verfügung.
Ein großes Problem bei alledem: Wie berechnet man den Aufwand, wie bildet man digitale Hochschullehre in Lehrverpflichtungsverordnungen ab, die bislang ausschließlich auf „Kontaktzeit“ im Sinne von „Dann-stehe-ich-im-Hörsaal-oder-Seminar“ ausgelegt sind und Lehre in Semesterwochenstunden (SWS) oder Lehrveranstaltungsstunden (LVS) erfassen. Okay, es findet sich bei näherer Suche auch ein Hinweis aufs Digitale: „Die Erstellung und Betreuung von Multimediaangeboten kann in einem dem Zeitaufwand entsprechenden Umfang bei der Erfüllung der Lehrverpflichtung berücksichtigt werden.“ So steht es beispielsweise in der Landeslehrverpflichtungsverordnung von Niedersachsen, genauer definiert wird auch in anderen Durchführungsverordnungen der Länder nicht. Angesichts aktueller Gegebenheiten steht die Frage im Raum, ob die Währung „LVS“ in der Praxis digitaler Lehre überhaupt noch zeitgemäß ist. Konsultationen finden häufiger statt, sind umfangreicher, Vorlesungen manchmal kürzer, dichter und vielleicht auch effektiver. Zumindest dann, wenn sie gut produziert sind. Ergo: Lehre, die alle digital verfügbaren Werkzeuge und Möglichkeiten ausschöpft, wird von den geschaffenen Anreizsystemen nicht erfasst, und sie wird vom politischen Akteur nicht aktiv gefördert. Denn gute digitale Lehre zieht alle Register der Interaktion, mischt Lehrformen und Genres, und ihre Akteure sind in der Lage selbstsicher Kanalentscheidungen zu treffen. Das heißt, sie können schnell und am jeweils beabsichtigten Lernergebnis orientiert entscheiden, welche Lernaufgaben in Form von Büchern, kürzeren Beiträgen und Texten, in Form von Audiodateien, Video, interaktiven Foliensätzen, „Livekorrekturen“, eines Quiz, einer Sortieraufgabe oder der gegenseitig digital verteilten Korrektur von Hausaufgaben gestellt werden. All dies geschieht vor dem Hintergrund didaktisch sinnvoller Entscheidungen und sorgfältiger Abwägungen. Moderne On- und Offlinelehre unterscheiden sich am Ende nur durch die gewählten Medien, oder, besser: Kanäle.
Ganz unabhängig davon, wie das Bewertungsproblem politisch gelöst werden kann, wird man am Ende zur Erkenntnis gelangen, dass ausgehend von einem zunehmenden Wettbewerb im Hochschulwesen jene profitieren, deren Lehrpersonal hohe Medienkompetenz bezogen auf Nutzung, Produktion und Kanalentscheidungen besitzt. Ein weiterer Aspekt: Je mehr Bedeutung die medienvermittelte Lehre erlangt, umso stärker rückt die Arbeit mit Studierenden an deren Schlüsselkompetenzen ins Blickfeld. Spinnt man diese Gedankenstränge weiter, dann benötigt moderne Lehre zwei grundlegende Neuordnungen: erstens jene, die sich auf die Anreizsysteme bezieht, zweitens eine, die sich die Lehr Lern-Beziehung vornimmt. Bei der letztgenannten wären die Lernaufgaben (im Sinne von Veränderungsanforderungen) auf Seiten der Lehrenden mindestens so umfassend wie jene auf Seiten der Lernenden: Im einen Fall geht es insbesondere um Medien- (oder Kanal-) im anderen um Selbstorganisationskompetenz.
Wenn Hochschulen Bildungsreinrichtungen bleiben wollen (die ohne Zweifel Erkenntnisse aus der Forschung unmittelbar umsetzen wollen, nicht dass jemand auf falsche Ideen kommt), dann wird dies nur mit Hilfe einer (schlüssel-)kompetenzorientierten Qualifizierungsoffensive gelingen. Man kann dies auch viel einfacher formulieren: Hochschullehrer sind die direkte Lehre in Hörsaal oder Seminar gewohnt, sie sind keine Bewegtbild-Profis mit TV-Routine: Dies gilt für den Auftritt vor Kameras, für Diktion und didaktische Umsetzung der Lehrinhalte, dies gilt auch und gerade für die Formulierung von Texten, die „sprechbar“ sind. Die Arbeit mit Mikrofon und Schnittsoftware, vor der Kamera sowie bei „Storyboarding“, Konzeption, Bildkomposition und Nachbearbeitung erfordern recht umfassendes kreatives und technisches Know-how – und die Rolle des Hochschullehrers unterscheidet sich in dieser Situation diametral vom Auftritt im Hörsaal oder dem Diskurs im Seminar.
Natürlich kann man Lehrveranstaltungen direkt mit mehreren Kameras in der konkreten Hörsaalsituation umzusetzen. Aber auch das erfordert gute Regie. Wer eine 90-minütige Lehrveranstaltung inklusive Nachbearbeitung sorgfältig mit Hilfe von AV-Medien umsetzen will, benötigt abhängig von der Konzeption zwischen 15 und 150 Stunden an Umsetzungszeit. Dies würde dann folgende Arbeiten mit umfassen: didaktisches Konzept, Auswahl der Themen für Einspielfilme, Dreharbeiten für die Einspielfilme, Schnitt und Tonnachbearbeitung der Einspieler, Aufzeichnung der Moderation und finale Nachbearbeitung. Noch umfangreicher bezogen auf den Produktions-Workload fallen Moodle-Kurse aus, die neben Audioangeboten, Filmzuspielungen, Animationen und die Anwendung weiterer H5P-Werkzeuge umfassen. Wohlgemerkt: Digitale Lehre mit souveränen Kanalentscheidungen sucht Professionalität. Wer sich heute in der Bildungslandschaft tummelt, wird eine Vielzahl von Ergebnissen der audiovisuellen Umsetzung von Lehrinhalten finden, die den Sehgewohnheiten der Zielgruppe – Studierende – kaum entsprechen. Diese Sehgewohnheiten sind geprägt von oft einfach, im Kern aber sehr professionell umgesetzten Bewegtbildangeboten auf Online-kanälen.
Ein Vorschlag zur Güte: Bewegtbild steht für die hohe Kunst der medienvermittelten Hochschullehre. Bezogen auf die Medienkompetenz sollten Lehrende deshalb zuerst ihre Fähigkeiten im Bereich Audioproduktion ausbauen und lernen, „Spreche zu schreiben“, wie dies im Titel zu diesem Beitrag angeregt ist. Übrigens selbst dann, wenn bewegtes Bildmaterial hinzukommt, bleibt die Tonspur ein entscheidender Kanal, in der Produktion von Dokumentarfilmen beispielsweise gilt seit jeher die Regel: Ton vor Bild. Der zusätzliche Vorteil, der sich auf diese Weise bietet: Didaktik kann zur Podcast- und damit zur Unterwegsdidaktik avancieren und in Autoradios oder über das Mobiltelefon im Öffentlichen Personen-Nahverkehr genutzt werden. Nun stellen gute Audioangebote ebenfalls vor Herausforderungen – diese jedoch sind von deutlich geringerem Umfang, als dies im Rahmen von „Bewegtbildlehre“ der Fall ist. Grundsätzlich können auch reine Hörangebote Flipped Classroom-Konzepte unterstützen, Lerninhalte strukturieren und einen Diskurs befeuern. Da die audiovisuelle Umsetzung in der Anschauung, oft suboptimal erscheint, könnte die Audio-plus-Skript-Variante eine durchaus interessante Alternative bieten, die einer „Beschadung“ der Lehrenden durch Schrottvideos entgegensteht.
Eines sollte zum Schluss noch erwähnt werden: die Angst, dass man als Lehrender vor Ort nichts mehr zu tun hat, weil nun alles die AV-Profis übernehmen und man selbst nur mit deren Inhalten arbeiten kann. Nun, diese Angst ist dann zumindest unbegründet, wenn man sich in der Lehre darauf besinnt, was Menschen verändert, was sie entwickelt. Der entscheidende Faktor heißt „Begleitung“ (der Autor war hier versucht zu schreiben: „liebende Begleitung“, vielleicht sollte man zumindest „zugewandte Begleitung“ formulieren) – und die braucht den persönlichen Kontakt, den Austausch – ob digital oder analog vermittelt, sie erfordert, den einzelnen Menschen zu sehen, dessen Möglichkeiten und Anstrengungsmotivation. In Lernkrisen müssen Lehrende zur Seite stehen und zum Weitermachen motivieren. Ein wichtiger Satz in diesem Kontext stammt von Timothy Slayter, der unter anderem das Buch „University Teaching Matters“ geschrieben hat. Er sagt sinngemäß: „Gute Lehre ist hoch komplex, und sie führt auf beiden Seiten zu Frustrationen“. Diese Frustrationen sind wichtig, denn nur sie können am Ende zu Höchstleistungen motivieren, ein Über-Sich-Hinauswachsen ermöglichen. Lernen ist anstrengend – und es muss und darf an innere Grenzen führen, je öfter dies der Fall ist, desto erfolgreicher das Bildungssystem. Die Digitalisierung gibt neue Möglichkeiten an die Hand, Komplexität zu beherrschen. Wenn Hochschullehre wie von Timothy Slayter beschrieben hoch komplex ist, dann sollten wir diese Möglichkeiten begrüßen, ja nachgerade umarmen, uns ihrer annehmen und dafür auch die politischen Weichen stellen. Wir haben aktuell die Chance, das beste aller denkbaren Systeme hochschulgebundener Bildung zu schaffen. Wir sollten sie nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen!
Grafik: Johanna Benz / johannabenz.de
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