Am 20. Mai berichteten wir an dieser Stelle mit welchem Aufwand die digitale Lehre an der Ostfalia in Salzgitter ganz konkret verbunden ist – das ist die Schattenseite der insgesamt ja durchaus positiven Bilanz zum Online-Sommersemester. Heute soll es um Politik gehen – und was sie mit der Digitalisierung der Hochschullehre zu tun hat. Die für alle Lehrenden in Niedersachsen geltende Lehrverpflichtungsverordnung des Landes, kurz LVVO erklärt seit Jahrzehnten sehr deutlich, wie die Währung an einer Hochschule lautet: Das Kürzel nennt sich in Niedersachsen LVS, und es steht für Lehrveranstaltungsstunden, die in die beschriebenen Wochenstunden auf das Semester bezogen angegeben werden. Diese im Semester zu erbringenden Wochenstunden sind Dreh- und Angelpunkt der Hochschulorganisation. Was im System aktuell spürbar ist: Digitalisierte Lehrangebote wirken flexibilisierend, lassen sich mit schematisch zu erfassenden LVS nicht abbilden, ihre didaktisch ausgefeilte Entwicklung und der Einsatz multimedialer Angebote benötigen Stunden, Tage, Wochen.
Die Landesregierung mag zu dieser Einlassung anmerken: In Paragraf 14 erfasst doch die seit 2018 gültige LVVO alle Ansprüche, die eine digital vermittelte Lehre mit sich bringt. Dort heißt es in Absatz 5: „Die Erstellung und Betreuung von Multimediaangeboten kann in einem dem Zeitaufwand entsprechenden Umfang bei der Erfüllung der Lehrverpflichtung berücksichtigt werden.“ So weit, so gut: Man erkennt indes unschwer in diesen Tagen, dass die Währung „LVS“ in der Praxis digitaler Lehre nicht mehr zeitgemäß ist. Konsultationen finden häufiger statt, sind umfangreicher, Vorlesungen sind manchmal kürzer, dichter und vielleicht auch effektiver. Zumindest dann, wenn sie gut produziert sind.
Der Haken: die LVVO unterstützt alle Lehrangebote, die in diesen Krisentagen „business as usual“ betreiben, insbesondere also Vorlesungen, die vor leeren Sälen stattfinden und per Livestream ins Netz übertragen werden. Das mag im einen oder anderen Falle ja auch sinnvoll sein. Gute, zukunftsorientierte Lehre, die alle digital verfügbaren Werkzeuge und Möglichkeiten ausschöpft, sieht anders aus. Sie wird von den geschaffenen Anreizsystemen nicht erfasst, und sie wird vom politischen Akteur nicht aktiv gefördert. Denn gute digitale Lehre an Hochschulen zieht alle Register der Interaktion, mischt Lehrformen und Genres, und ihre Akteure sind in der Lage selbstsicher Kanalentscheidungen zu treffen. Das heißt, sie können schnell und am jeweils beabsichtigten Lernergebnis orientiert entscheiden welche Lernaufgaben in Form von Büchern, kürzeren Beiträgen und Texten, in Form von Audiodateien, Video, interaktiven Foliensätzen, „Livekorrekturen“, eines Quiz, einer Sortieraufgabe, der gegenseitig digital verteilten Korrektur von Hausaufgaben gestellt werden. All dies geschieht vor dem Hintergrund didaktisch sinnvoller Entscheidungen und sorgfältiger Abwägungen. Wer ein wenig länger darüber nachdenkt, erkennt, welcher Aufwand hierfür nötig ist, es ist ein Aufwand, der sich in keiner Weise über die Regelungen der LVVO abbilden lässt.
Dabei könnte vieles so leicht sein. Es muss ja nicht jeder das Rad neu erfinden. Warum tun wir uns als Hochschullehrer nicht im Land zusammen, arbeiten gemeinsam an den besten digitalen Kursangeboten, die Deutschland bieten kann, nutzen die Krise, um eine gemeinsame Plattform zu schaffen, vorhandene Digitalangebote zusammenzuführen? Warum finanzieren wir nicht im Land drei oder vier zentrale „Netzwerkhubs“ der Medientechnik – mit Möglichkeiten zur hochqualitativen Produktion von Lehrangeboten. Die technischen Möglichkeiten sind gegeben, was bei der Planung in der Vergangenheit vergessen wurde, ist die entsprechend dauerhaft angelegte Betriebsausstattung mit Personal. Nahezu alle Werkzeuge, mit denen wir heute die Digitalisierung der Hochschullehre ins Werk setzen, sind keinesfalls neu. Sie sind und sie haben sich bewährt. Und vieles von dem, was wir aktuell tun, hätten wir so oder zumindest ähnlich auch bereits vor mindestens einer Dekade hinbekommen. Warum wir dies nicht getan haben? Dieser Beitrag findet zumindest eine Antwort: Es war nicht nötig, und: es wurde nicht aus dem System heraus gestützt oder initiiert.
Foto: Ra Boe / Wikipedia / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de
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