Es soll noch einmal um die Lehre an der Ostfalia in Salzgitter gehen. In den ersten Teilen dieser Reihe wurde unser Autor ja durchaus grundsätzlich, heute soll es schließlich um die Angst gehen, als Lehren-der überflüssig zu werden, wenn schließlich alles digital ist, auf Landesebene vernetzt zur Verfügung steht – und plötzlich auch digitale Konkurrenten aus ganz anderen Orten für Studierende eine Rolle spielen können, weil es im Netz ja um die Ecke und damit auch im übertragenen Sinne nahe liegt…
Also, richtig, da war noch etwas, die Angst, dass man als Lehrender vor Ort in Salzgitter nichts mehr zu tun hat, weil sich Studierende an Lehrangeboten anderer Institutionen bedienen, bei Profis, die auch auf YouTube gut rüberkommen. Nun, sie ist dann zumindest unbegründet, wenn sich Hochschullehrer darauf besinnen, was Menschen verändert, was sie entwickelt. Der entscheidende Faktor heißt „Begleitung“ (der Autor dieser Zeilen war unmittelbar versucht zu schreiben: „liebende Begleitung“, vielleicht machen wir „zugewandte Begleitung“ daraus) – und die braucht den persönlichen Kontakt, den Austausch, ob digital oder analog vermittelt, sie erfordert, dass Lehrer den einzelnen Menschen sehen, seine Möglichkeiten und seine Anstrengungsmotivation, dass ihm in Lernkrisen zur Seite gestanden wird, jeder und jede zum Weitermachen motiviert wird. Ein Satz der die Essenz guter Hochschullehre exzellent formuliert, stammt von Timothy Slayter, der unter anderem Buch das „University Teaching Matters“ geschrieben hat, ein Titel, der sich mit „Die Lehre an der Uni hat Bedeutung“ grob übersetzen lässt. Und er sagt: Gute Lehre ist hoch komplex, und sie führt auf beiden Seiten – bei Lehrern wie Studenten – zu Frustrationen. Doch diese Frustrationen sind in seiner Überzeugung wichtig, denn nur sie können am Ende zu Höchstleistungen motivieren, ein Über-Sich-Hinauswachsen ermöglichen. Wer sich in der Grundschule Multiplikation oder Division aneignen musste, weiß es, wer der aus dem Spiel mit Subjekt, Prädikat und Objekt Fähigkeiten entwickelt hat, wie jene, einen solchen Artikel, den Sie nun gerade lesen, zu schreiben, weiß es möglicherweise noch besser: Lernen ist anstrengend – und es muss und darf uns an unsere eigenen Grenzen führen. Je öfter dies der Fall ist, desto erfolgreicher das Bildungssystem. Die Digitalisierung gibt nun neue Möglichkeiten an die Hand, Komplexität zu beherrschen. Wenn Hochschullehre, wie von Timothy Slayter beschrieben, hoch komplex ist, dann sollte man diese Möglichkeiten begrüßen, ja nachgerade umarmen, sich ihrer annehmen und dafür auch die politischen Weichen stellen.
Man könnte es auch als Aufforderung so formulieren: „Wir haben aktuell die Chance, das beste aller denkbaren Systeme hochschulgebundener Bildung zu schaffen! Wir sollten sie nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen!“
Die besten Studierenden sind jene, die sich selbst organisieren können, die sich feste Routinen schaffen und darauf einlassen, zur Verfügung gestellte Materialien auch studieren, jene, die auf das Externalisieren von Bedingungen und auf Schuldzuweisungen an Gegebenheiten des Systems verzichten. Wäre ausgeprägte Selbstorganisationskompetenz das einzige, was ernsthaft Studierende aus einem Studium mitnehmen, müsste man sich um „Employability“, das ist eine dieser Zauber-Vokabeln, die bildungspolitisch motivierte Herzen oft höher schlagen lässt, man müsste sich kaum mehr darum kümmern, denn wer selbstorganisiert arbeiten kann, kann sich in nahezu jede talentnahe Tätigkeit schnell einarbeiten. Selbstorganisationskompetenz kennt eine wesentliche Voraussetzung, sie lässt sich als Binsenweisheit formulieren: Wer lesen kann, ist im Vorteil! Was man also auch in und mit dieser Krise wieder neu lernen darf: Lesen ist nach wie vor die wichtigste Kulturtechnik – und jene, die es beherrschen, einerseits schnell, andererseits dennoch konzentriert zu lesen, schreiben am Ende deutlich bessere Skizzen und Arbeiten, sie sind aufmerksamer bei den Besprechungsterminen und können auf hohem Niveau mitdiskutieren. Interessant dabei: Es braucht solche Krisenzeiten, es braucht eine konsequent digitalisierte Hochschullehre, um dies in aller Konsequenz sichtbar zu machen.
Ergo: Das zentrale Ziel von Bildungspolitik darf Lesekompetenz lauten. Sie ist die Grundvoraussetzung der Selbstorganisationskompetenz. Wer ein Buch studieren kann, scheitert an keinem Moodle-Kurs, für den sind digitale Lernangebote eine perfekte Ergänzung, wenn sie zusätzlich zu reiner Lektüre Videozuspielungen, Audio-Vorlesungen, Interviews, Übungsaufgaben, intensive Reflexionsübungen oder Konzepte zur eigenständigen Bewertung von Aufgaben anderer enthalten.
Zeitungen haben in den vergangenen Wochen im Digitalen eine bemerkenswerte Renaissance erlebt – auch das zeigt: nur wer lesen kann, ist letzten Endes am gesellschaftlichen Prozess beteiligt und akzeptiert auch nicht leichtfertig die Verlockungen, die einfachere Verschwörungsmythen bieten.
Foto: Joe Beck / Unsplash
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