“Last not least” – der vierte von insgesamt vier Essays, die sich damit auseinandersetzen, wie die Zukunft von Massenmedien und Sozialen Medien auch politisch verantwortlich gestaltet werden können. Adina Eggert nimmt sich hierfür dem institutionellen Wandel gesellschaftlicher Kommunikation an und diskutiert die “undenkbare De-Institutionalisierung der publizistischen Medien”. Ein dickes Brett, ein spannender Text – absolut lesenswert!
Die vollkommene De-Institutionalisierung der publizistischen Medien ist nicht möglich
Lange überlege ich, mit welchen ausgewählten Worten ein Essay über den Wandel von Kommunikation in der Gesellschaft wohl zu beginnen hat. Mache mir Gedanken darüber, wie ich am besten kommuniziere, was für Erwartungen und Ansprüche ich selbst an meine eigene Kommunikation stelle und welche Ansprüche der Hochschule diesen gegenüber stehen. Halte mir die legitimierten Regeln und Normen dieser Institution sowie ihre und meine Rolle in der Öffentlichkeit vor Augen, passe meine Kommunikation dementsprechend an. Nebenbei schreibe ich einer Kommilitonin innerhalb von wenigen Sekunden eine Nachricht über eine Online-Plattform, denke wenig über die Formulierung, sondern eher über den Inhalt, den ich vermitteln möchte, nach.
Eine Situation, die den Wandel, den gesellschaftliche Kommunikation seit einigen Jahren bestreitet, greifbar macht. Wenn sich die eigenen Ansprüche und Erwartungen an Kommunikation in unterschiedlichen Medien bereits auf diese Art und Weise differenzieren lassen, und wenn das Schreiben einer Online-Nachricht durch eine gewisse informelleStruktur vereinfacht wird, wie gestaltet sich unter Berücksichtigung der voranschreitenden Digitalisierung, dem Ausbautechnologischer Infrastruktur und der Neu-Institutionalisierung von Sozialen Medien die Kommunikation der gesamten Öffentlichkeit? Wie träge und schwer wirkt die Kommunikation in publizistischen Medien dagegen und was führt dazu, dass sie seit Jahren eine legitimierte und vor allem eine gesellschaftsrelevante Institutionen ist, deren De-Institutionalisierung undenkbar erscheint?
Seit jeher lebt und besteht die Gesellschaft in einem komplexen Konstrukt aus Systemen und Untersystemen, aus Ordnungen, Institutionen und Organisationen. Rollen in der Gesellschaft und verschiedene Akteure in diesem als Prozess zu verstehendem Gerüst schaffen durch Kommunikation ihre eigenen Regeln und Normen, Erwartungen an andere und ansich selbst. So gilt es auch für die bis vor einigen Jahren herrschende Medienordnung, in der sich durch das Leben dieser Regeln und Normen und das wiederkehrende Typisieren von Handlungen die publizistischen Medien als wesentliche, gesellschaftsrelevante und öffentlichkeitsbildende Institutionen gestalten konnten (vgl. Jarren 2019, S. 166). Dersoziologische Neo-Institutionalismus, der für das Verständnis des kommunikativen Wandels zunächst herangezogen undseine Auffassung und Interpretationen von Institutionen angenommen werden, beschreibt diese Institutionen als Regelsysteme. Sie strukturieren, begrenzen und ermöglichen das soziale Verhalten unserer Gesellschaft. So etabliert sich der Auftrag der publizistischen Medien durch eine fortwährende Stereotypisierung, zu einem Herstellen von allgemeiner Öffentlichkeit, in der sich – durch journalistische Beobachtung und Reflexion – die Gesellschaft selbst beobachten und anhand von kommunizierten Entscheidungsabsichten anderer eigene Entscheidungen treffen kann. (vgl. Jarren 2019, S. 164)
Wer spielt(e) die Hauptrolle in der gesellschaftlichen Kommunikation?
Die universellen, aktuellen Massenmedien wie die Zeitung, das Radio oder das Fernsehen genießen durch ihre jahrelange Etablierung und den intensiven Institutionalisierungsprozess in der Gesellschaft ein großes Vertrauen und eine hohe Reichweite, sie spielen die Hauptrolle in der öffentlichen Kommunikation (vgl. Jarren 2019, S. 164). Saxer formuliert sie auch als „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen“ (Saxer 1999). Sie beanspruchen, nach Überlegungen von Kurt Imhof, vor allem Relevanz in der Herstellung von politischer Öffentlichkeit, sie nehmen öffentliche Aufgaben wahr (vgl. Jarren 2019b, S. 349). Ehringer greift weiter auf, dass diese Institution der Massenmedien sich, nach dem Neo-Institutionalismus, vor allem durch die vier Ebenen der Institutionalisierung auszeichnen, die alle die Basis einer aus Erwartungsstrukturen konstruierten Umwelt gemein hätten (vgl. Ehringer 2019, S. 55). Eine Erwartung, die sich auf der regulativen (Darstellungsformen in Medien), der normativen (Rollen oder Routinen), der kulturell-kognitiven (Beeinflussung der Wahrnehmung von Wirklichkeit durch Gattungen oder Berichterstattungsformate) und der technologischen Ebene niederschlage (vgl. Katzenbach 2020, S. 5 und Jarren 2019, S. 169).
Wir als Gesellschaft erwarten demnach also eine ganz bestimmte Berichterstattung, eine Kommunikation seitens des Anbieters, die sich an allgemeinen, normativen Regeln und Routinen, wie beispielsweise am Pressekodex oder an Staatsverträgen orientiert. Regelsysteme, die den Handlungsspielraum der Institution begrenzen. „Benimmregeln“ für Gespräche zwischen Politiker*innen und Journalist*innen sind bekannt, Auswirkungen von parteiischer Artikulation im Voraus klar. Demnach erfüllten die (publizistischen) Medien seit vielen Jahren artig die Erwartungen an ihre Kernleistung: die Bereitstellung von Themen, welche sowohl für die allgemeine Gesellschaft als auch für individuelle Lebenswelten relevant sind (vgl. Jarren 2019, S. 168).
Ein Vorabendprogramm nach Schema F, die Börse, die Tagesschau pünktlich um 20:00 Uhr, der Gong, die Eingangsmelodie. Guten Abend meine Damen und Herren, gleiche Tonalität, dieselbe Sprache, jeden Abend. Das Wetter, die Lottozahlen, im Anschluss der neue Tatort – Erwartungen erfüllt.
Die Tagesschau – gerade hier ließe sich beobachten, wie vor allem durch die politischen Debatten und Akteure, die journalistisch für das möglichst breite Publikum thematisiert werden, für Rezipient*innen dazu beitragen, Interessen der politischen Akteure sicht- und greifbar zu machen und in der eigenen Interessen- und Entscheidungsfindung zu unterstützen, welche sich wiederum auf politische Debatten auswirken können, die erneut durch Kommunikation und mediale Aufmerksamkeit in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden (vgl. Jarren 2019, S. 164) und nach dem Gong um 20:00 Uhr ertönen.
Dass die Mediengattungen, so unterschiedlich sie in ihren organisierten Kommunikationskanälen auch sein mögen, nebeneinander existieren können, ohne einander in ihrer Legitimation zu gefährden oder ihre bestehenden Regeln zu brechen, liege nach Jarren in der Natur der Isomorphie (vgl. Jarren 2019, S. 169). Ein Prozess, in dem sich Organisationen innerhalb eines organisatorischen Feldes aneinander orientieren und sich angleichen, da ihnen dieselbe institutionelle Erwartung entgegen gebracht werde (vgl. Ehringer 2019, S. 57). Durch das gegenseitige Ausrichten aneinander könne wiederum die Anerkennung der geltenden Regeln und Normen erhöht und die Erwartungsstrukturen gestärkt werden (vgl. Jarren 2019, S. 169). Die Ebenen der Institution greifen: Regulative Institutionen erleben Legitimation durch eine erzwungene Isomorphie, normative Institutionen durch normativen Druck und kulturell-kognitive Institutionen durch mimetische Prozesse. Auf Isomorphie folge Legitimität (vgl. Ehringer 2019, S. 63 f.).
Nach Etablierung der ersten Printmedien, ihrer Normen und Werte, ihrer stetigen wiederkehrenden Handlungen und kommunikativen Elemente, betrat der Hörfunk die Medienordnung. Ein Faktor, eine neue Wettbewerbsform im Feld der Medien, welcher nach Jarren jedoch keinen Schock auslöst, sondern, nach den Prinzipien der Isomorphie, durch eine angleichende Institutionalisierung in einer trägen Implementierung die Werte und Normen übernahm. Eine Ausrichtung der Medien und Journalist*innen aneinander sei der Kern dieser Überlebensstrategie. Gleiches geschah wenig später für das Fernsehen, das zunächst normative Formen inkrementell übernahm und in seinem späteren Verlauf die Werte und Normen durch eigene Regularien wie die duale Rundfunkordnung erweiterte. Hörfunk und Fernsehen, zunächst nur als öffentliche Medien eingeführt, später als duale Rundfunkordnung mit dem privaten Rundfunk, nahmen so unter normativem Druck Einfluss auf das Gesamtmediensystem (vgl. Jarren 2019, S. 171).
Die Medienordnung bestand, Medien und Journalismus hatten ihren Institutionalisierungsprozess durchlaufen, spielten die Hauptrolle in gesellschaftlicher Kommunikation und konstituierten, ganz im Sinne des Neo-Institutionalismus, die allgemeine Öffentlichkeit. In der Gesellschaft etabliert, von ihr geschätzt und anerkannt. Über allem, was publiziert wurde, lag der Filter der Medien und des Journalismus. Bestand doch ein erheblicher Eingriff in die Konstituierung einer Öffentlichkeit und ihrer eigenen Meinungsbildung, so wurde sie durch Regeln und Verträge wie die Presse- und Redefreiheit legitimiert. Regulierungen durch die bestehende Medienpolitik – ebenfalls eine konstituierten Institution – war gegeben und nationalstaatliche Verträge sicherten die Erwartungsstrukturen der Gesellschaft ab, eine Finanzierungsbeteiligung für Nutzer*innen war durch institutionelle Handlungen legitimiert. Eine De-Institutionalisierung der publizistischen Medien undenkbar.
Die tatsächliche Möglichkeit der De-Institutionalisierung
Bis schließlich ein neues, andersartiges Set an Normen und Leitideen einen exogenen Schock auslöste, Isomorphie verweigerte, sich nicht in das bestehende nationalstaatliche Mediensystem einreihte und einen journalistischer Anspruch an Kommunikation von Grund auf ablehnte. Nationalstaatliche Förderungen wurden nicht benötigt, institutional work wurde zu institutional entrepreneurs, private statt öffentliche Dienstleistungen wurden angeboten (vgl. Jarren 2019, S. 172).
Die Sozialen Medien, die zusammengefasst als alle „[…] Angebote auf Grundlage digital vernetzter Technologien, die es Menschen ermöglichen, Informationen aller Art zugänglich zu machen und davon ausgehend soziale Beziehungen zu knüpfen und/oder zu pflegen“ (Taddicken, Schmidt 2017, S. 8) bezeichnet werden können, konstituierten sich. Plattformen bieten in diesem Fall die Infrastruktur für die Kommunikation von Nutzer*innen, die diese sowohl veröffentlichen als auch kuratieren (vgl. Katzenbach 2020, S. 1). Das Problem für publizistische Medien: die neuen Intermediäre können mehr als sie selbst. Sie bieten, so Jarren, Orientierung und strukturelle Ordnung, jedoch auch kommunikative Macht für alle Akteure, eine flexible Organisation von Interessen und die einfache Koordination von (kommunikativen) Handlungen – völlig losgelöst von politisch-rechtlichen oder kulturellen Vorgaben und den Vermittlungsleistungen der professionellen Journalist*innen und Medien (vgl. Jarren 2019, S. 164, 172). Diese neuen Plattformen streben, so Jarren nach Imhof, nicht nach einem publizistischen Vermittlungsinteresse (vgl. Jarren 2019b, S. 349).
Private Kommunikation macht Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen zwischen den Anbietern und Nutzer*innen Platz. Die Individualkommunikation erreicht einen neuen Grad an Freiheit (vgl. Jarren 2019, S. 175). Neu-Institutionalisierung – jedoch nicht durch Isomorphismus, sondern ausschließlich durch Kommunikation. Doch bedeutete die Institutionalisierung der neuen Plattformen automatisch die De-Institutionalisierung der bestehenden Kanäle und Ordnungen und die Ablehnung der Mechanismen des Neo- Institutionalismus?
Laut Katzenbach bedeute dies zunächst einen fundamentalen institutionellen Wandel, Kurt Imhof bestätigt dies mit seiner Annahme über einen zweiten, strukturellen Wandel der Öffentlichkeit. Festzuhalten bliebe an dieser Stelle, dass durch diesen Wandel und durch die mit den neuen Intermediären einhergehende Re-Institutionalisierung der publizistischen Medien der soziologische Neo-Institutionalismus stark kritisiert werden könne. Nach Florian (2008, S.132) wäre der Neo-Institutionalismus durch seinen Fokus auf Stabilität und Isomorphien nicht in der Lage, soziale Institutionen, ihre Entstehung, ihren Wandel und ihre Vielfalt zu begreifen. Es würde eine Sicht aus der Prozessperspektive gefordert, die Phänomene wie die angenommene unmögliche De-Institutionalisierung (beispielsweise von publizistischen Medien) ermöglichen würde (vgl. Florian 2008, S. 132). Die Praxistheorie nach Pierre Bourdieu, die durch das Aufgreifen des US-amerikanischen Neo-Institutionalismus zu einer stärkeren Betrachtung gelangt, versucht, eigenständiges, subjektives und wiederholtes Handeln der Akteur*innen der Gesellschaft (wie er es nennt: Habitus) und die Rolle von Institutionen in der sozialen Gesellschaft zu vereinen. Florian führt weiter aus: „Auf dieser methodologischen Basis lassen sich soziale Institutionen in einer doppelten Existenzweise erfassen: einerseits in ihrer gegenständlichen Objektivität als besondere Strukturformen und Mechanismen sozialer Praxis, andererseits in der subjektivierten Form einverleibter mentaler (und körperlicher) Strukturen (Dispositionen). Erst die Genese und Reproduktion der Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsschemata des Habitus verleihen Institutionen die für ihre Reproduktion notwendige Legitimität der Fraglosigkeit oder motivieren den für institutionellen Wandel erforderlichen Zweifel an diesen Selbstverständlichkeiten.“ (Florian 2008b, S. 4296)
Im erweiterten Neo-Institutionellen Sinn bedürften vorliegende Rollen, Regeln und Regulierungen einer erneuten Klärung, nachdem die bestehende Ordnungen aufgrund wesentlicher normativer, regulativer und kulturell-kognitiver Unterschiede in der neuen Instanz nicht mehr anwendbar sind (vgl. Katzenbach 2020, S. 2). Neu definiert werden müssten vor allem die Rollen der Akteure, der Nutzer*innen der Sozialen Medien, und ihr soziales Handeln (vgl. Jarren 2019, S. 166), aber auch die Rolle der neuen Intermediäre und ihre allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen an sie (vgl. Brosda, Schulz 2020). Dort, wo die Presse durch ökonomischen Wettbewerb und der Rundfunk durch medienrechtliche Regulierungen begrenzt wird, werden diese zwei technisch getrennten Märkte im Internet erstmals zusammengeführt und lassen eine Flut an Informationen frei, die keine nationalstaatlichen Grenzen kennt (vgl. Brosda, Schulz 2020). Was erwarten wir von einer kommunikativ konstituierten Institution? Wie fließen eigene Denkmuster und habitualisierten Handlungen und Erfahrungen aus der Institution publizistischer Medien in die Konstituierung der neuen Intermediäre ein? Begreifen wir nach Legitimation der Sozialen Medien als Institution den Journalismus weiterhin als unerlässlich in der Gestaltung der Öffentlichkeit oder kann die neue Institution mit ihren erweiterten Handlungsspielräumen die traditionelle Rolle des Journalismus ersetzen? Und wie kann, als Pendant zu journalistischen Selektionsverfahren in Massenmedien, die Rolle der publizistischen Medien in der neuen Institution der Sozialen Medien nach Öffentlichkeit ringen?
Von institutional work zu institutional entrepreneurs
Nach einem von den Massenmedien bestimmten Strukturwandel der Öffentlichkeit sind es nun die Sozialen Medien, die sich kommunikativ zu Institutionen konstituieren und somit, aufbauend auf Überlegungen von Kurt Imhof, einen nächsten Wandel der Öffentlichkeit auslösen (vgl. Jarren 2019b, S. 349). Plattformen wurden, aus Neo-Institutioneller Sicht, aufgrund neuer Werte und Leitbilder, jedoch von institutionellen Unternehmern, von Jarren auch institutional entrepreneurs genannt, entwickelt. Google, Facebook und Twitter zeigen, dass die Konzepte neuer Intermediäre ausschließlich werbefinanziert und aus ökonomischem Antrieb existieren. So romantisch eine nach Bourdieus Habitus logische Schlussfolgerung auch wäre, dass durch die Genese und Reproduktion der eigenen Handlungen entstandene Zweifel an der Selbstverständlichkeit der Institution zu einer Neuausrichtung führte (vgl. Florian 2008b, S. 4269), so ernüchternd ist die Wahrheit, dass die wirtschaftsgetriebene Massenkommunikation eine neue Plattform zur Ausbreitung erlangt.
Hier folge zwar wahrscheinlich auf die persönlichen Reflektion und Erwartungshaltung an die Institution Medien eine selbstbestimmte und entgegen der Isomorphie agierende Kommunikation, jedoch ist die entstandene Interaktionsbeziehung für Nutzer*innen vielleicht kommunikativ, aber noch lange nicht partizipativ. Strukturen werden vorgegeben, eine Beteiligung an der Gestaltung der Plattformen ist nicht möglich. Trotz der hohen Kommunikationsmacht, die die Plattformen den Nutzer*innen verleihen, ist es immer demnach stets die Anbieterseite, die die Struktur definiert und das Nutzungsverhältnis zu ihren eigenen Vorteilen lenkt. Eine institutionelle Legitimität kann sich jedoch auf die Ermöglichung von Individualkommunikation, also der für alle Akteur*innen geltenden Redefreiheit, stützen, solange sie der Freiheit, die sie ihren Nutzer*innen verspricht und der Unabhängigkeit journalistischer Kommunikationsweisen, nicht grundsätzlich widerspricht. So ist es möglich, dass sie den Nutzern wie informelle und stark formlose und weniger als formelle, also besonders formgebende Institutionen vorkommen (vgl. Jarren 2019, S. 172, 175).
Katzenbach führt weiter aus, dass der fundamentale Prozess der Neuinstitutionalisierung in der für die Gesellschaft relevanten Kommunikation den Sozialen Medien eine Rolle als selbstverständliches Mittel zur privaten und gesellschaftlichen Kommunikation beimisst. Ändert sich die persönliche Kommunikation (so auch ihr Freiheitsgrad in den Medien), so ändere sich auch die Erwartungshaltung an kommunikatives Handeln, gegenüber anderer Akteur*innen und Organisationen. Eine kollektive Verschiebung der Erwartungshaltung wäre denkbar (vgl. Katzenbach 2020, S. 2).
Betrachte ich hier als Akteurin in den Sozialen Medien das eigene Kommunikationsverhalten und meine Erwartungen an die Plattformen, sowie andere Nutzer*innen wie beispielsweise auch Organisationen, Parteien oder Verbände, nehme ich bewusst war, wie ich von der durch Plattformen institutionalisierten Öffentlichkeit, nach dem Akzeptieren der vorgegebenen Kommunikationskanäle und -strukturen, erwarte, dass sich andere Akteure des traditionellen Mediensystems ebenfalls an ihr beteiligen und sich an die von den Plattformen vorgegebenen Kommunikationsformen anpassen. Eine Enthaltung aus Debatten und Diskussionen im digitalen öffentlichen Raum, der nach Habermas noch nicht einmal als dieser bezeichnet werden dürfte (vgl. Habermas 2006), entspräche nicht meinen persönlichen Erwartungen an die heutige, digitalisierte und stark vernetzte Medienlandschaft. Nichts desto trotz besteht in meinen Augen die Gefahr, dass der neue öffentliche Raum als eine Grundlage für diskussionsfähige und öffentlichkeitsrelevante Kommunikation durch die Fülle an Stimmen und Informationen geflutet werden könnte.
Algorithmusblase statt Journalismusfilter
Die journalistische Arbeit, ihre Tätigkeit als Filter für allgemein relevante Themen und ihre regulativen Normen in den Massenmedien werden in den Sozialen Medien fallen gelassen, die neuen Kommunikationsangebote, -kanäle und -ansprüche unterscheiden sich grundlegend von bekannten Strukturen. Es werden keine Gatekeeper benötigt, die die Themen nach Relevanz für die Allgemeinheit selektieren und journalistische Ansprüche sicherstellen. Auf den Plattformen geschieht das gleiche wie während des ersten Strukturwandels der Öffentlichkeit: „[…] der Journalismus in den Massenmedien hat auch seine den Ton angebende (Meinungstenor) wie den Darstellungsstil (Sprache; bildliche Darstellungsformen; Formen der Kritik etc.) prägende Funktion verloren“ (Jarren 2019b, S. 353).
Der neue, digitale Gatekeeper nennt sich Algorithmus. Im Gegensatz zu journalistischen Ansprüchen für Relevanz in publizistischen Medien liegt hier der Anspruch bei der Individualisierung und dem Konstituieren einer eigenen, kleinen Öffentlichkeit. Durch ungefilterte Kommunikation und Anerkennung dieser durch ein aufgebautes Netzwerk ist es mir als Nutzerin sogar möglich, über mein Netzwerk hinaus die neue allgemeine Öffentlichkeit zu erreichen und, im besten Fall, die Erwartungen anderer Akteur*innen an sie mit meiner Kommunikation zu bestätigen und die Plattformen institutionell zu bestärken.
Nach Katzenbach sind auch während des zweiten Strukturwandels der Öffentlichkeit, in dem wir uns zur Zeit befinden, die bestehenden Ebenen der Institutionalisierung ein Indiz dafür, dass sich Ordnungs- und Wandlungsprozesse, wie wir sie in der Neuausrichtung des Mediensystems erleben, durch ganz unterschiedliche Mechanismen und an verschiedenen Orten abspielen. Mithilfe dieser institutionstheoretische Basis lasse sich eine Doppelbewegung wechselseitiger Institutionalisierung beschreiben. Plattformen re- institutionalisieren durch ihre neuen Formen die Öffentlichkeit, während diese gleichzeitig von Öffentlichkeit, Politik oder den Nutzer*innen institutionell gestaltet wird (vgl. Katzenbach 2020, S. 5f.).
Ein Schritt in Richtung Re-Institutionalisierung publizistischer Medien
Denn auch, wenn sich die Sozialen Medien zunächst als kulturell und politisch unabhängig etabliert und die Kommunikationsweise und -regulierung der traditionellen Medien durch die Einrichtung eigener Kommunikationsstrukturen und -richtlinien abgelehnt haben, so wäre es für die Institutionen Journalismus und Politik vermutlich fatal, diese nicht wahrzunehmen. Niedrige Eintrittsbarrieren in einen gesellschaftlichen Dialog mit der neuen Öffentlichkeit, wie sie die Plattformen bieten (vgl. Jarren 2019, S. 172), können, und dafür plädiere ich, den ersten wichtigen Schritt in der Re-Institutionalisierung von publizistischen Medien und journalistischen Ansprüchen darstellen. Der Strukturwandel gesellschaftlicher Kommunikation ist noch nicht vollendet, eine vollkommene Integration der Plattformen in die Gesellschaft und die Politik steht noch aus (vgl. Katzenbach 2020, S. 12). Jarren führt zum Prozess der Institutionalisierung der Öffentlichkeit aus: „Horizontal wie vertikal differenziert sich das Intermediäre System der Gesellschaft wie auch die Öffentlichkeit aus. Für diesen Differenzierungsprozess sind Social-Media-Plattformen relevant, weil sie zahlreiche Möglichkeiten für die Interessenartikulation Einzelner wie Gruppen oder Organisationen ermöglichen. Zudem können Social Media sowohl flexibel genutzt (Mediennutzung) wie auch benutzt werden (Mediengebrauch). Damit entstehen für Einzelne wie Organisationen neue Formen von Teilhabe, Teilnahme, Mitgliedschaft wie der sonstigen Inklusion.“ (Jarren 2019b, S. 360)
Wie der Beginn einer Implementierung von politischen Themen in den Sozialen Medien aussehen kann, zeigen bereits Twitter-Accounts von Politiker*innen und Parteien, offizielle Accounts massenmedial relevanter Nachrichtenagenturen oder auch einzelne Nutzer*innen der Plattformen wie beispielsweise Blogger*innen, die ihre Stimme erheben und die für ihre Öffentlichkeit relevanten Themen kommunizieren können. Politisch motivierte Blogger*innen schaffen hier bereits eine Schnittstelle zwischen einem gewissen Rezipient*innen-Anspruch an zuverlässige und journalistisch geprüfte Informationen und dem Adaptieren der Kommunikationsstrukturen der neuen Intermediäre. Ist das politische Interesse und der Anspruch an eine journalistisch Aufbereitung erst einmal in einer Teilöffentlichkeit geweckt, fließt es in den Prozess des strukturellen Wandels von Kommunikation mit ein, beeinflusst gegenseitig Plattformen und Öffentlichkeit, schürt Erwartungen und konstituiert publizistische Medien erneut. Die Öffentlichkeit, die sich zunächst als ein Akteur im traditionellen Mediensystem fügte, institutionalisiert und durch Ausrichtung an kollektiven Entscheidungen und Erwartungen angepasst wurde, ist von den neuen Plattformen abhängig, die wiederum von der Öffentlichkeit und ihren Akteur*innen abhängen. Ein Kreislauf, in den es in den nächsten Jahren gilt, ein gesellschaftsrelevantes Thema wie politische Akteure und Debatten einzuschleusen.
Institutioneller Wandel der Medienregulierungen
So flexibel wie die Integration von Politik in die Sozialen Medien noch erscheinen mag, so flexibel sollten in Zukunft aber auch, so fordern ebenfalls Brosda und Schulz, vor allem um den neuen Erwartungen der Öffentlichkeit an (politische und kulturelle) Kommunikation gerecht zu werden, die Aufgabenbereiche der publizistischen, öffentlich-rechtlichen Medien gestaltet und Handlungsbereiche ausgeweitet werden. Das vernachlässigen der journalistischen Brille und ihrer Filterfunktion im Internet zu Beginn der Ausdifferenzierung der Medien zieht die Veränderung der regulativen Ebene mit sich.
Können Presserecht und Staatsverträge den öffentlich-rechtlichen Rundfunk regeln, sind es nach Katzenbach vor allem Community Guidelines und AGBs, die die vielseitige Kommunikation der Nutzer*innen auf den Plattformen bestimmen. Sind es letztendlich diese informellen Regeln, die die Plattformen stellen und selbst als einen Filter für die Art und Weise der Kommunikation setzen, ist es doch das einfache darüber hinweg Scrollen durch Nutzer*innen, was Katzenbach sowie Brosda und Schulz kritisch anmerken, aber gleichzeitig die informelle Eigenschaft der neuen Plattformen ausmachen. Medienpolitik wie sie derzeit bestünde, müsse sich unter Berücksichtigung der neuen Plattformen, ihrer individuellen Regularien und Kommunikationswege auf eine erheblich ausgeweitete Zahl von Stakeholdern ausrichten, um diskursfähig zu sein (vgl. Brosda & Schulz 2020).
Das Befördern der Nutzer*innen zu relevanten Kommunikationsakteur*innen im politischen Diskurs, die durch technologische Infrastrukturen eigene Interessen teilen, sich mit Gleichgesinnten vernetzen und eine eigenen Öffentlichkeit schaffen können, führen im Idealfall zu einem hohen Gemeinschaftsgefühl, das es auch für Brosda und Schulz gilt, im Sinne des Journalismus und der publizistischen Medien, trotz der Kommunikationsflut im Internet, beizubehalten. Im strukturellen Wandel, in dem wir uns befinden, könnte eine Integration dieser Kommunikationsakteur*innen in den Prozess der Medienregulierung als konstituierendes Mitglied in Kombination mit der fortführenden Bindung der Intermediäre an die Grundrechte entscheidend sein.
Plädoyer für eine Re-Institutionalisierung der traditionellen publizistischen Medien
Maria Löblich betont noch einmal das Wissen, welches Akteur*innen über die Bedingungen ihres Handelns haben. Sie speichern es in ihren Regeln und Routinen. Legitimierte Institutionen, in denen Handlungsmuster etabliert sind, würden, im Sinne des Neo- Institutionalismus, so lange nicht in Frage gestellt werden, bis eine Unterbrechung die üblichen Handlungen der Akteur*innen stoppt und ein Prozess des sozialen Wandels stattfindet. Hier würden Institutionen reorganisiert und müssten ihre Legitimation erneut begründen und erarbeiten (vgl. Löblich 2017, S. 433). Veränderte Nutzungsformen im Medienbereich, wie bei der Institutionalisierung der neuen Intermediäre und im voranschreitenden Strukturwandel der gesellschaftlichen Kommunikation, würden in diesem Falle die publizistischen Medien dazu veranlassen, ihre Daseinsberechtigung als Institution auf die Probe zu stellen. Im vorliegenden Essay wird vor allem die Verantwortung sowie die Beeinflussungen der Plattformen betont, doch ohne Öffentlichkeit, ohne jeden einzelnen Nutzer und jede einzelne Nutzerin gäbe es die neue mediale Öffentlichkeit nicht. Vielleicht liegt es jetzt in der Verantwortung der Rezipient*innen, die Ansprüche an die Formulierung von Nachrichten in den Sozialen Medien zu überdenken, zurück zu kehren zu den Ansprüchen an wahre Aussagen und fundierte Informationen, an eine angemessene Kommunikation und somit den Prozess des gesellschaftlichen, institutionellen Wandels, als wesentlicher Bestandteil dessen, in eine anspruchsvolle Richtung zu lenken. Eine Re- Institutionalisierung der publizistischen Medien durch die moderne Gesellschaft in ihrer Rolle als globale Kommunikationsgesellschaft.
Über die Autorin
Adina Eggert studiert Kommunikationsmanagement und überzeugt mit ihrem sehr persönlich gehaltenen Essay. Studierende des Masterstudiengangs Kommunikationsmanagement argumentieren im Ergebnis dieses Seminars sorgfältig und stellen fundierte Überlegungen an: Wie kann ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk gestaltet werden? Welche Möglichkeiten gibt es, Medienzukunft angesichts zunehmender Verschiebungen der Mediennutzung zu denken? Welche Rolle spielen Plattformen?
Und sie schreiben Essays – ein eher ungewöhnliches Format im Studium. Im Regelfall werden eher wissenschaftliche Hausarbeiten verfasst. Das Experiment, die Autorinnen und Autoren auf einen Essay zu verpflichten, ist erfolgreich – und bringt erstaunliche Ergebnisse, die hier geteilt werden. Vier Arbeiten erreichen im Rahmen der Begutachtung eine 1,0 – und werden geteilt. Prädikat: Lesenswert!
Literatur zum Essay
Brosda, Carsten; Schulz, Wolfgang (2020): Wir brauchen eine neue Medienpolitik. Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ehringer, Wolfgang (2019): Strategisches Management und Neo-Institutionalismus – Legitimität als Quelle fürunternehmerische Wettbewerbsvorteile. Wiesbaden: Springer Gabler
Florian, Michael (2008a): Felder und Institutionen. Der soziologische Neo-Institutionalismus und die Perspektiven einerpraxistheoretischen Institutionenanalyse. Berliner Journal für Soziologie 18: 1:129-155
Florian, Michael (2008b): Ökonomische Institutionen als soziale Praxis: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur „neuen“Wirtschaftssoziologie. Leipzig: Gesis
Habermas, Jürgen (2006): Political Communication in Media Society: Does Democracy Still Enjoy an Epistemic Dimension? The Impact of Normative Theory on Empirical Research. Communication Theory, 16(4), 411–426.
Jarren, Otfried (2019): Fundamentale Institutionalisierung: Social Media als neue globaleKommunikationsinfrastruktur. Publizistik: 64 S. 163-179
Jarren, Otfried (2019b): Medien- und Öffentlichkeitswandel durch Social Media als gesellschaftliche Herausforderung wie als Forschungsfeld. In M. Eisenegger, L. Udris & P. Ettinger (Hg.), Wandel der Öffentlichkeit und der Gesellschaft: Gedenkschrift für Kurt Imhof (S. 349–406).Wiesbaden: Springer VS
Katzenbach, Christian (2020): Die Öffentlichkeit der Plattformen: Wechselseitige (Re-)Institutionalisierung vonÖffentlichkeit und Plattformen. Wiesbaden: VS Verlag
Kops, Manfred (2014): Die Medien in Deutschland zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Eine Langzeitbetrachtung für die Jahre zwischen 1950 und 2020. Köln: Institut für Rundfunkökonomie
Löblich, Maria (2017): Legitimität in der Medienpolitik: Eine strukturationstheoretische und neo-institutionalistische Perspektive. In Publizistik 62:425-443 Wiesbaden: Springer Fachmedien
Saxer, U. (1999): Der Forschungsgegenstand der Medienwissenschaft. In J.-F. Leonard, H.-W. Ludwig, H.-W. Schwarze & E. Strassner (Hrsg.), Medienwissenschaft – ein Handbuch zur Entwicklung derMedien und Kommunikationsformen. 1. Teilband (S. 1-14). Berlin: De Gruyter
Stark, B. & Magin, M. (2019): Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit durch Informationsintermediäre – WieFacebook, Google & Co. die Medien und den Journalismus verändern. In M. Eisenegger, L. Udris & P. Ettinger (Hg.), Wandel der Öffentlichkeit und der Gesellschaft: Gedenkschrift für Kurt Imhof _(S. 377–406).Wiesbaden: Springer VS
Taddicken, Monika; Schmidt, Jan-Hinrik (2017): Entwicklung und Verbreitung sozialer Medien. In Jan-Hinrik Schmidt & Monika Taddicken (Hrsg.), Handbuch Soziale Medien. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 3-22