Wie sollen klassische Medien auf Social Media reagieren? Wie setzt man sich am besten mit neuen Kommunikationsroutinen auseinander? Was unterscheidet Journalisten von Influencern? Wo beginnt Journalismus, wo endet er? Das alles sind Fragen, die man an einem aktuellen Beispiel ausgesprochen gut nachvollziehen kann.
Auf einer kompletten Seite dokumentierte die Braunschweiger Zeitung nun Auftritt und Schwerpunkte der Braunschweiger Social-Media-Kommunikateurin Anabel Schunke. Räumt man ihr damit zuviel Platz ein, nimmt man sie zu wichtig? Wie ist sie überhaupt einzuschätzen, ist sie Journalistin, Aktivistin, Influencerin? Mit ihrem Portrait trat das Zeitungshaus und Redakteur André Dolle auch unter Lesern eine große Diskussion los – Harald Rau vom KomMa-Team wurde als Experte zur Einordnung gefragt.
In diesem Post dokumentieren wir die Berichterstattung, die Reaktionen von Frau Schunke, sowie den in der Zeitung fortgeführten Diskurs. Zusätzlich zum in der Braunschweiger Zeitung abgedruckten Interview, stellen wir hier auf der KomMa-Seite die Langfassung des Interviews mit Harald Rau zur Verfügung.
Langfassung des Interviews mit Marius Klingemann von der Braunschweiger Zeitung:
Marius Klingemann: In einem Leserbrief der Braunschweiger Zeitung als Reaktion auf die Berichterstattung wird geschrieben: „Ich verfolge schon lange die Beiträge und Texte von Frau Schunke. Immer auf dem Punkt genau. Gut geschrieben. Und ohne jegliche Tendenz zu irgendeinem politischen Lager. Sie hat den Mut die Missstände in unserem Land anzusprechen. Was schon allein traurig ist dass eine Journalistin Mut haben muss um etwas zu schreiben oder auf den sozialen Netzwerken zu zeigen.“ Wie würden Sie das Prädikat „Journalist“ in Zusammenhang mit Frau Schunke beurteilen? Welche Relevanz und auch „Deutungsmacht“ hinsichtlich bspw. politischer Themen (hier z.B.: Einwanderung, Islam) haben Influencer heutzutage aus Ihrer Sicht, und das auf welches Publikum? Was acht das „Phänomen Schunke“ dabei vielleicht insbesondere aus?
Harald Rau: Nun, es ist ja so, dass sich jeder Journalist oder Journalistin nennen darf. Das ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Die Diskussion, wer der richtige, der wahre Journalist ist, ist so alt wie das Berufsbild selbst. Gehen wir zurück ins 19. Jahrhundert – eine extrem große Zahl der Medien, damals alles Printmedien, war Parteienpresse. Das was wir heute als neutralen Journalismus kennen, der einem Kodex verpflichtet ist, das ist ein Phänomen, das im Grunde erst nach der Neuordnung des Mediensystems durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg mit ohne Frage hier gutem angelsächsischem Einfluss entstand. Dennoch würde ich immer einen Unterschied zwischen Kommunikation über Soziale Medien und über Massenmedien machen. Der Einfluss von Influencern ist bezogen auf das Kaufverhalten inzwischen ganz gut erforscht. Die meisten Studien – eine recht umfassende vom Bundesverband Digitale Wirtschaft zum Beispiel – sagen, dass Influencer Kaufentscheidungen in durchaus interessantem Maße beeinflussen. Wir können also auch davon ausgehen, dass sie auf politischer Ebene Bedeutung haben.
Marius Klingemann: Wo stoßen klassische Medien bei solchen Themen/Konstellationen womöglich an ihre Grenzen, die für Influencer/“Internet-Persönlichkeiten“ nicht gelten? Worin liegt hier aus Ihrer Sicht die Gefahr (aber ggf. auch ein Vorteil)?
Harald Rau: Würden Sie jemanden, der sich Arzt nennt aber weder eine Approbation noch ein abgeschlossenes Studium oder eine Facharztausbildung absolviert hat, Ihren Blinddarm operieren lassen? Sicher nicht! Im Medienbereich tun wir aber gerade dieses, dabei ist eine demokratische, komplex ausdifferenzierte Gesellschaft ohne ein funktionierendes System der Medienkommunikation nicht denkbar. Das ist meine Überzeugung. In der heutigen Medienwelt wachsen Journalismus, Public Relations, Politstrategische Kommunikation und Aktivismus mehr oder weniger gezwungenermaßen zusammen. Wir gestatten über Social Media Verschwörungstheoretikern, Influencern – also Beeinflussern -, Aktivisten jeder Couleur, selbsterklärten Besserwissern und keinem Pressekodex verpflichteten Kommunikateuren uns mit ihren Meinungen zu behelligen – nicht gut!
Marius Klingemann: Frau Schunke sieht sich laut ihrer Aussagen offenbar nicht als klassische „Verführerin“, sondern beruft sich auf die „Eigenverantwortung“ der Menschen, die ihr bspw. bei Facebook folgen und ihre Beiträge so aufnehmen. Auch aus unserem genannten Artikel: „Und wie steht es um ihre Verantwortung? Auch jüngere, noch ungefestigte Persönlichkeiten dürften ihre Beiträge lesen, ihre Filmchen schauen. Schunke sagt lediglich: „Die Leute tragen eine Eigenverantwortung.“
Harald Rau: Das ist genau der Punkt – sie hat recht. die einzige Alternative wäre, Medienregulierung auszudehnen, damit kommen wir möglicherweise dem Thema Zensur näher. Und der wichtige Satz lautet ja: „Eine Zensur findet nicht statt!“. Die einzige Lösung wäre: Medienbildung. Mündige Bürger in einer Demokratie brauchen die Werkzeuge zur guten Entscheidungsfindung. Wir haben ja während der Pandemie ja dann doch gesehen, dass viele den klassischen Medien eher vertrauen. Deren Absatz stieg. Wer informiert sein will, benötigt einen Standard. Es gibt keine andere Lösung als bereits im humanistischen Bildungsideal formuliert wurde: Bildung ist mehr als Wissen. Wir brauchen mehr und bessere Medienbildung. Schon Kinder müssen wissen, was Medien mit ihnen machen – und was ernstzunehmende Inhalte sind und was nicht. Vielleicht sollten wir ja zusätzlich über eine geschützte Medienkommunikations-Berufsbezeichnung nachdenken.
Marius Klingemann: Kann man sich hier Ihrer Meinung nach als Mensch mit zig Tausend Followern so einfach „aus der Affäre ziehen“?
Harald Rau: Ja, das ist Meinungsfreiheit, grundgesetzlich gesichert.
Marius Klingemann: In einem weiteren Leserbrief heißt es: „Ist es nicht etwas unverhältnismäßig, Frau Schunke diese Bühne von einer ganzen, kompletten Seite in Ihrer Zeitung zu geben?“ Wie sehen Sie die Rolle der „klassischen Medien“ in dieser Konstellation? Ist eine Auseinandersetzung mit „speziellen“ Position, auch im hier stattgefundenen Umfang, jederzeit richtig oder sollte man diese „Bühne“ ggf. auch mal verwehren? Warum?
Harald Rau: Interessanterweise habe ich am Tag der Publikation genau dieses am Frühstückstisch auch diskutiert: Warum gibt die Braunschweiger Zeitung hier eine solch große Plattform? Persönlich bin ich in diesem Punkt hin- und hergerissen: Wir müssen diese Themen besprechen. In diesem Fall unbedingt hinzuzufügen wäre: Im Netz sind 70.000 Follower im Grunde ein Klacks.- Gronkh, der sich beim „Gamen“ über die Schulter schauen lässt, hat 4,89 Millionen Abonnenten, wer also ist da Frau Schunke?.
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